top of page
Suche
AutorenbildEllen Kuhn & Joachim Materna

Reisen - ein innerer Evolutionsprozess

Aktualisiert: vor 6 Tagen


Reisephilosophie, Reisepsychologie, Reisemotivation, Reiseintention, Warum reisen Menschen, Reisetypen, Reisepersönlichkeiten, Reisetyp, Reisepersönlichkeit, Welcher Reisestyp bin ich?, Reiseerfahrung

Blickt man aus einem rein statistischen Blickwinkel auf das Reisen, so kann man konstatieren, dass bis zur Corona-Pandemie mehr Menschen reisten als je zuvor in der Geschichte der menschlichen Zivilisation. Im Jahr 1950 verzeichnete man weltweit 25 Millionen Privatreisende, während im Jahr 2019 fast 1,5 Milliarden Menschen aus aller Herren Länder sich zu einer Reise in die Welt aufmachten.

Die Motive und Gründe, eine Reise anzutreten, haben sich im Laufe der Jahrtausende erheblich verändert und sind zwischenzeitlich sehr vielfältig und komplex. Viele Aspekte sind uns bewusst, viele versuchen wir vor anderen oder gar uns selbst im Dunkeln zu halten. Vielleicht ebenso spannend wie die Beweggründe für eine Reise erscheint aber die Fragestellung, was eine Reise mit uns als Menschen zu machen vermag und wie unser persönlicher Entwicklungsstand fast schon eine conditio sine qua non dafür ist, wie uns eine Reise verwandeln kann und darf.

 

Gehen wir also in medias res, um dieser elementaren Frage auf den Grund zu gehen, und springen hinein in eine Reiseszenerie. Eine Situation, die wir alle nur zu gut kennen. Wir sitzen an einem Flughafen, es könnte auch ein Bahnhof oder ein Hafen sein, ein beliebiger Ort, welcher das Sprungbrett zu unserem Reiseziel darstellt. Täglich sitzen Millionen Menschen an Flughäfen, Bahnhöfen und Häfen, und doch erleben wir alle diesen winzigen Bestandteil einer Reise doch unfassbar diskrepant. Manch eine/-r sieht die Zeit als notwendiges Übel an, die Prozeduren werden stoisch hingenommen, abgearbeitet. Verzögerungen werden als Verschwendung von Lebenszeit betrachtet und enden hin und wieder im inneren oder gar äußeren Lamentieren. Manch eine/-r sitzt aber auch völlig fasziniert im Warteraum und saugt die vielen Facetten der Reise in sich auf. All die Menschen verschiedener Kulturen werden wahrgenommen, ihre Mimik und Gestik, aber auch ihr ganz individuelles Reiseverhalten: Welches Gepäck haben sie dabei, was essen sie, wie kleiden und bewegen sie sich?

Vielleicht wird sogar der Moment des eigenen Aufbruchs tief emotional erlebt und wahrgenommen, wie es sich im gesamten Körper anfühlt, einen Ort zu verlassen und in etwas Unbekanntes oder Neues zu starten. Das Kribbeln, die Euphorie, die Ungewissheit. Auch unplanmäßige Verzögerungen können ein Anlass für die Konfrontation mit philosophischen und soziologischen Fragestellungen sein: Wie fühle ich mich persönlich mit dem Ausgebremstsein? Welche Unterschiede im Sozialverhalten zeigen sich bei meinen Mitreisenden? Wie verändert sich das Miteinander durch Unverfügbarkeiten? Vielleicht erfährt dieser Mensch mit seiner besonderen Wahrnehmung aber auch einen tiefen Aha-Moment, einen Moment der Verwandlung. Und das in einer völlig alltäglichen und scheinbar so lapidaren Reisesituation. Solche Momente begegnen uns oft völlig unverhofft.

Natürlich gibt es zwischen den beiden gerade skizzierten Polaritäten der Wahrnehmung auf Reisen mannigfaltige Abstufungen und nicht immer empfindet ein und derselbe Mensch gleich. Manchmal sind wir in großer Eile und können nur an ein pünktliches Ankommen denken, manchmal sind wir völlig entspannt und uns gelingt ein Eintauchen in den Moment. Vielleicht reflektieren Sie gerade auch darüber, wo Sie sich selbst gegenwärtig in gewissen Situationen auf einer Skala verorten würden.

 

Folgerichtig stellt sich nun die alles entscheidende Frage, welche Faktoren dazu beitragen, wie tief wir so ziemlich alles, was auf Reisen geschieht, wahrnehmen und verarbeiten können, aber auch wie intensiv wir uns durch diese Erlebnisse verwandeln lassen können und wollen.

 

Sicherlich gibt es viele Möglichkeiten, sich dieser Fragestellung zu nähern. Einige Modelle aus der Psychologie können dabei allerdings recht erhellend sein.

 

Auf Reisen zu sein, versetzt uns radikal in ein neues Umfeld, und dieses Umfeld wird zunächst in Form von Reizen an unseren Organismus herangetragen. Der intensive Geruch eines indischen Currys in einer Garküche in Mumbai, die beeindruckende Geräuschkulisse unzähliger startender Motorroller an einer grünen Ampel im Herzen Saigons, die Soussuvlei-Düne in Namibia, deren majestätische Erhabenheit uns visuell, aber auch fast körperlich in Demut hüllt, die Hände einer balinesischen Masseurin auf unserer Haut, die unfassbar zarte Textur eines frischen Thunfischs auf unserer Zunge, der gerade auf dem Tsukiji-Fischmarkt in Tokyo für uns zubereitet wurde. All diese Erlebnisse und Erfahrungen dringen über unsere Sinne in uns ein.

 

Schon viele Psychologen wie Alice Miller, Carl Gustav Jung und Iwan Pawlow setzten sich mit der erhöhten Sensitivität innerhalb der menschlichen Spezies auseinander. 1996 systematisierte die amerikanische Psychologin Elaine Nancy Aron diese Idee und entwickelte das Modell der Hochsensibilität. Nach ihrer Vorstellung bedeutet Hochsensibilität unter anderem eine hohe Sensitivität für subtile Reize. Diese sogenannte Hochsensibilität, also die überdurchschnittlich ausgeprägte Sensibilität, tritt gemäß einiger Experten bei etwa 15 bis 20 % der Bevölkerung auf. Was dieses Konzept aber grundsätzlich veranschaulicht, ist, dass wir Menschen unterschiedliche Schwellen haben, wie und auf welchem Niveau uns Reize jeglicher Form erreichen, also im wahrsten Sinne in uns eindringen. Diese Reize können Geräusche, Gerüche, Berührungen, natürlich auch der Geschmack, aber auch die visuelle Wahrnehmung von Objekten, Menschen und Landschaften sein. In aller Regel haben vor allem Hochsensible eine intensive Wahrnehmung von Stimmungen und Emotionen in ihnen selbst oder aus ihrer Umgebung. Je geringer also der subjektive Filter von Reizen ausfällt, desto mehr Informationen können in unseren Organismus eindringen.

 

Das Eindringen von Reizen ist aber nur der erste Schritt. Denn was geschieht mit diesen auf Reisen allzu willkommenen „Eindringlingen“? Sie müssen selbstverständlich verarbeitet werden.

Und hier beginnt es extrem spannend zu werden. Denn die losen Informationen aus unserer Umgebung werden nun in unserem Inneren vernetzt, verbunden, eingeordnet und integriert.

 

Gemäß dem österreichischen Neurologen und Psychiater Viktor Emil Frankl hat der Mensch einen angeborenen Willen zum Sinn. In unserem Reisekontext gesprochen werden wir alle versuchen, die aufgenommenen Reize in einen für uns stimmigen Sinnzusammenhang zu bringen. Je mehr Reize wir aufnehmen, desto mehr Zusammenhänge müssen hergestellt werden und das braucht je nach Individuum auch seine Zeit. Während eine/-r tagelang und über viele Stunden durch Großstädte wie New York, Buenos Aires, Seoul, Sydney oder Singapur laufen kann, da die eigene Reizschwelle sehr hoch ist und vieles diesen Menschen gar nicht erreicht, ist die Intensität der wahrgenommenen Reize für eine/-n andere/-n viel zu intensiv und diese/-r muss mehr Pausen für die Verarbeitung einplanen. Gleichzeitig kann es für jemanden mit einer sehr hohen Reizschwelle, also jemand, der sehr spät überhaupt etwas von der Umgebung wahrnimmt und in sich spürt, verlockend erscheinen, sich einer maximalen Intensität, wie beispielsweise beim Bungeespringen, auszusetzen, um mit diesem Kick das Reizschwellen-Filter überhaupt einmal zu durchdringen.

 

Unmittelbar mit der Verarbeitung von Reizen auf Reisen, also der Herstellung von Sinnzusammenhängen, ist die Fähigkeit verbunden, dies überhaupt tun zu können. Es sind an dieser Stelle also neben dem Zeitfaktor auch individuelle Voraussetzungen verlangt.

Der US-amerikanische Biochemiker und Autor Ken Wilber schildert in seinem Modell der Integralen Theorie, dass die innere Entwicklung von uns Menschen in verschiedenen Entwicklungslinien verläuft. Für Wilber sind wir in verschiedenen Lebensbereichen – unter anderem kognitiv, emotional, moralisch, sozial und spirituell – alle unterschiedlich entfaltet. Je höher der „Entwicklungsstand“ in einigen oder gar allen diesen Linien, desto einfacher können Erfahrungen, Erlebnisse und Informationen allgemein in uns verarbeitet und in unser gesamtes System oder besser Weltbild integriert werden. Je ausgeprägter also unsere inneren Kompetenzen sind, desto besser gelingt es, die vielen Eindrücke auf einer Reise auch zu verarbeiten. Prasseln zu viele Reize auf uns ein und uns fehlen die Kompetenzen, diese zu verarbeiten, empfinden wir Überforderung. Genau deshalb ist es so elementar, sich selbst diesbezüglich zu kennen und einschätzen zu lernen. Denn diese Fähigkeiten entscheiden darüber, wie eine Reise für uns konzipiert sein muss. Brauchen wir mehr Ruhephasen? Wie lange brauchen wir an einem Ort?

Das Modell der Entwicklungslinien veranschaulicht aber nicht nur unseren gegenwärtigen Entwicklungsstand, sondern auch, dass sich unsere Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeiten auf Reisen im Laufe unseres Lebens auch kontinuierlich verändern. Entfalten sich beispielsweise unsere emotionalen Kompetenzen im Laufe der Jahre von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter, sind wir irgendwann in der Lage, mehr Gefühle in anderen und in uns selbst wahrzunehmen. Somit steigt auch die Möglichkeit, gewisse Erfahrungen auf Reisen überhaupt erst zu machen, während wir in jungen Jahren diese Dimensionen weder erahnen noch erschließen konnten. 

 

Aber wir sind noch nicht am Ende. Das Verarbeiten ist wiederum nur ein weiterer Schritt. Nach dem Eindringen der Reize in unseren Organismus sowie der Verarbeitung dieser Reize folgt unweigerlich, dass daraus weitere Effekte in uns resultieren können. Damit spannt sich der Bogen zur Eingangsfrage: Wie kann uns eine Erfahrung auf Reisen oder das Reisen per se verwandeln?

 

Bleibt man im Bild der Entwicklungslinien von Ken Wilber, so werden die neuen Erfahrungen und Erlebnisse auf einer Reise nicht nur in unser bestehendes Weltbild eingeordnet, sondern sie können gleichzeitig auch dazu beitragen, unser Weltbild, also unsere Wahrnehmung von der Welt, weiterzuentwickeln und unser Verhalten anzupassen. So können beispielsweise die traurigen Plastikmüllberge an balinesischen Stränden und Flüssen ein reines Ästhetikproblem für uns sein oder aber ein Anlass, uns mit der weltweiten Müllentsorgung auseinanderzusetzen, mit den lokalen Problemen der Inselbevölkerung und den Einflüssen des Massentourismus. All diese Überlegungen können darin münden, auch unsere eigene Beteiligung an dieser Maschinerie zu erkennen und selbst bewusster zu leben.

 

Selbstverständlich gibt es Reiseformen, die geeigneter sind, gewisse Reiseerfahrungen zu machen, aber es ist ein Trugschluss zu glauben, dass gewisse Formen des Reisens tiefe Verwandlungen unmöglich machen. Es mag sein, dass sich jemand – legitimerweise – in einem schönen Strandresort von der Außenwelt zurückziehen will. Aber alleine das Wohnen in einem solchen sagt noch nichts darüber aus, was jemand wahrnehmen kann, welche Erfahrungen Reisende in der Umgebung machen, welche Begegnungen sie mit der lokalen Bevölkerung haben, welche Rückschlüsse sie ziehen und wie es sie verwandeln kann. Entscheidend dafür ist alleine die ganz individuelle Reizschwelle und Verarbeitung, die individuelle Wahrnehmung.

 

Allzu oft werten wir gewisse Reisearrangements ab und kritisieren unsere Mitmenschen, weil sie dem einen oder anderen Trend und unlauteren Motiv fürs Reisen anheimfallen. Dabei finden alle Menschen in gewisser Weise die Reise, die zu ihren zeitlichen, finanziellen, körperlichen, psychischen, intellektuellen, kognitiven und emotionalen Rahmenbedingungen passt. Dennoch scheint es für jede/-n Reisende/-n die Möglichkeit einer Evolution des Reiseverhaltens zu geben, die Hand in Hand mit der ganz persönlichen inneren Weiterentwicklung geht.

 

Ein wichtiger Begriff scheint aber noch zu fehlen und bedarf einer gesonderten Würdigung. Es ist der Begriff der Neugier. Neugier treibt uns an, etwas Neues zu entdecken. Allerdings scheint es von Mensch zu Mensch verschiedene Grade, Ausprägungen und Spannweiten von Neugier zu geben. Die Psychologie und Philosophie liefern für diese Unterschiede verschiedene Thesen. Gemäß dem Psychologen Todd Kashdan ist Neugier beispielsweise eine Persönlichkeitseigenschaft, die mit Offenheit für Erfahrungen, Risikobereitschaft und emotionaler Belastbarkeit zusammenhängt. Eine Persönlichkeitseigenschaft kann man haben oder eben auch nicht. Aber es gibt auch andere Herangehensweisen an die Neugier aus der Neurowissenschaft, wonach Neugier das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert und deshalb eigentlich auf jeden Menschen mit einem gesunden Gehirn anzuwenden ist. Der Neurobiologe Gerald Hüther plädiert dafür, dass wir von Kindesbeinen an alle neugierig sind, aber unser Schulsystem und die Mechanismen darin diese Neugierde bei vielen Kindern und damit auch bei den späteren Erwachsenen abschwächen oder gar „abtöten“. Aus welchen Gründen auch immer: Es scheint nahe zu liegen, dass wir Menschen unterschiedliche Neugierintensitäten und -bereiche haben. Einige interessieren sich nur für Natur und Tiere, können mit einer Stadt und der Kulinarik nichts anfangen. Einige interessieren sich für Soziologie, Politik und Geschichte, können aber vielleicht wenig mit Kunst und körperlicher Betätigung anfangen. Je umfassender die Neugiersphären eines Menschen sind, desto mehr wird der betroffene Mensch auf einer Reise auch wahrnehmen und an sich heranlassen.

 

Ob und wie uns eine Reise verwandeln kann und darf, hängt also elementar von unseren eigenen Voraussetzungen ab, wie neugierig wir sind, wie viel wir wahrnehmen, wie wir diese Informationen verarbeiten und welche Handlungen wir daraus ableiten. Selbstverständlich auch in gewissem Umfang von der Reiseform, aber vor allem von unserer Bereitschaft, uns bewusst allen inneren und äußeren Facetten und Abenteuern eines Reiseunterfangens zu stellen.

Eine Reise ist immer eine Chance, aber man muss sie auch sehen und ergreifen (können).


98 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


bottom of page